Kelly Family: Die bekannteste Großfamilie der Welt

Kelly Family: Die bekannteste Großfamilie der Welt
Kelly Family: Die bekannteste Großfamilie der Welt
 
Der Kelly Family — neun Geschwister irischer Abstammung — gelang es zu Beginn der Neunzigerjahre, in Deutschland eine stetig wachsende Popularität zu erlangen und sich gleichermaßen zu generationsübergreifenden Publikumslieblingen wie zu rekordverdächtigen Erfolgskünstlern zu entwickeln. Mit einem bunten Musikprogramm, bestehend aus irischer und sonstiger Folklore, rockigem Material, Schlagern, deutschem Liedgut und allem, was sonst noch eingängig und hörerfreundlich ist, begeisterten sie bei Konzerten und auf Schallplatte ein Millionenpublikum, das sich vor allem aus Teenies, aber auch aus deren Eltern und Großeltern zusammensetzt. Als Familienverbund, mit wallendem Haar, archaisch anmutenden Fantasiekostümen und Reminiszenzen an das einfache Landleben bedienten sie die Sehnsucht der Menschen nach der »guten alten Zeit«, und mit äußerst geschicktem Marketing und Management erreichten sie Plattenverkäufe wie kaum ein anderer einheimischer Künstler.
 
 Die Großfamilie entsteht
 
Die Kellys sind irischer Abstammung: Ihre Vorfahren, die noch Kelley hießen, wanderten Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika aus, um wie Tausende ihrer Landsleute der in Irland herrschenden Hungersnot zu entkommen und ein besseres Leben zu finden. Der Urgroßvater der Geschwister, Sean O«Kelly, wuchs in der Neuen Welt auf, und sein Sohn Daniel J. Kelly, der spätere Vater der zwölfköpfigen Kinderschar, wurde 1930 in Erie, Michigan, geboren. Nachdem er Philosophie und Mathematik studiert und als Gymnasiallehrer ein bürgerliches Leben begonnen hatte, wandte er sich Mitte der Sechzigerjahre unter dem Einfluss der Hippierevolte einer anderen Lebensform zu. Er begann gemeinsam mit seiner Frau Barbara Ann, einer klassisch ausgebildeten Tänzerin irischer Abstammung, die er 1957 geheiratet hatte, durchs Land zu reisen und mit Trödel und Antiquitäten zu handeln. Auf der Suche nach einem naturverbundenen Leben fern von amerikanischer »Zivilisation« und Entfremdung wanderte die Familie 1966 nach Spanien aus und ließ sich in Toledo nieder. Vier Kinder waren damals schon geboren: Danny (1961), der geistig behindert ist und als Musiker nicht in Erscheinung trat, Caroline (1962), Kathy (6. März 1963 in Leominster, Massachussetts) sowie Paul (1964). Vater Kelly hielt von öffentlichen Schulen wenig und erzog seine Kinder weitgehend selbst, und im Familienkreis spielte das Musizieren eine wichtige Rolle. Nach der Geburt des Sohnes Johnny (8. März 1967 in Talavera, Spanien) übersiedelten die Kellys in die ländliche Einöde des Dorfes Gamonal in der spanischen Provinz Castilla-La Mancha. Abgeschieden von der Außenwelt und deren Errungenschaften lebten sie als Selbstversorger in einem Haus ohne Wasser und Strom, hielten sich Schweine und anderes Nutzvieh und handelten mit Trödel und Antiquitäten. In Gamonal kamen Patricia (25. November 1969), Jimmy (James Victor; 18. Februar 1971) und Joey (Joseph Marty; 20. Dezember 1972) zur Welt. 1973 machten sich die mittlerweile zur Großfamilie angewachsenen Kellys ins baskische Belascoain auf, wo sie begannen, einen Irish Pub zu betreiben. In zunehmendem Maße wurde die Familie, die aufgrund ihrer Haut- und Haarfarbe sowie ihres Umfangs in der spanischen Provinz eine Attraktion darstellte, eingeladen, bei Hochzeiten und anderen Feiern zu singen und zu spielen.
 
 Gründung der Kelly-Band und Wanderjahre
 
Von da war es nur ein kleiner und logischer Schritt zur Gründung einer Gruppe, die 1974 erfolgte. Vater Kelly, Überlebenskünstler und cleverer Geschäftsmann gleichermaßen, ahnte, dass er aus seiner Kinderschar Kapital schlagen konnte, und kaufte in diesem Jahr einen gebrauchten Doppeldeckerbus, mit dem die Familie begann, durch Europa zu ziehen und auf der Straße aufzutreten. Und mit jedem weiteren Kind kam auch ein weiteres Bandmitglied zur Welt, das eingespannt wurde, sobald es ein Instrument halten oder mitsingen konnte. Nach der Geburt von Barby (Barbara Ann; 28. April 1975 in Belascoain) brach die Familie die Zelte in Spanien ab und tingelte — ohne festen Wohnsitz — durch Frankreich, Deutschland, Österreich, die Schweiz, Italien und Holland. 1977 landeten die Kellys für ein paar Monate in Dublin, Irland, wo Paddy geboren wurde (5. Dezember 1977), der somit der einzige »echte» Ire in der Familie ist (wenngleich alle anderen Geschwister ebenfalls einen irischen Pass haben). In Irland traten sie erstmals in einer Fernsehshow auf. 1978 ging es weiter nach Deutschland, Johnny und Patricia bekamen Tanzunterricht an der renommierten Stuttgarter »John Cranko Ballettschule«, und bis Anfang 1979 hatte die Familie ihren Stützpunkt auf einem Campingplatz an der Kieler Straße in Hamburg. Caroline, das älteste musizierende Kind, verließ die Gruppe 1978, um Krankenschwester zu werden. Ihr Aussteigen wurde wie das spätere von Paul (1984) von Vater Kelly sehr ungnädig aufgenommen, und die beiden wurden — zumindest gegenüber der Presse — genau wie der behinderte Danny in der Folge als eigentlich nicht vorhanden betrachtet. Von 1979 bis 1981 nahmen die Kellys ihren Wohnsitz in Amsterdam, von wo aus sie jedoch unermüdlich tourten. So kam die Tochter Maite (* 4. Dezember 1979) in Berlin zur Welt.
 
 Erste Erfolge und »fester« Wohnsitz
 
1979 war das Jahr, in dem die Kelly Family erste größere Erfolge verzeichnen konnte. Vico Torriani lud sie in seine Fernsehshow ein, woraufhin Polydor der Familie einen Plattenvertrag anbot. Als erste Single erschien »Danny boy«, ein irisches Volkslied, mit »Who«ll come with me (David«s Song)« hatte die Gruppe zumindest in Holland und Belgien einen Nr.-1-Hit (in Deutschland Platz 15), und mit 40 TV-Auftritten allein im Jahr 1980 war sie geradezu omnipräsent. Der Plattenvertrag erstreckte sich über drei LPs, und nachdem er erfüllt war, nahm Dan Kelly 1980 die Geschäfte ebenso wie die Plattenproduktion selbst in die Hand. Bereits am Ende des Jahres erschien »Christmas all year«, 1981 folgte die LP »Wonderful world«. Barbara Ann, die Mutter der mittlerweile elfköpfigen Kinderschar, erkrankte in diesem Jahr an Krebs, woraufhin Vater Dan seine Sippe zurück nach Belascoain führte. Einen Tag vor Weihnachten, am 23. Dezember 1981, kam Angelo, das zwölfte und letzte Kind zur Welt, und zu Beginn des Jahres 1982 erlag Barbara Ann, die sich immer fünfzehn Kinder gewünscht hatte, ihrem Krebsleiden. Nach diesem Schock verließ die Familie Spanien, und Dan, den seine Kinder seit dem Tod der Mutter »Mapa« nannten, zog mit diesen nach Paris. Mit Straßenauftritten und dabei in Eigenregie verkauften Schallplatten und Kassetten hielt sich die Kelly Family über Wasser. 1986 lernte Kathy den Studenten Vincent kennen, der sich der Familie anschloss und mit auf große Fahrt ging. 1987 tingelte das Musiker- und Familienkollektiv mehrere Monate durch die USA, um nach der Rückkehr nach Europa eine weitere neue Lebensform zu finden. 1988 kaufte Dan in Amsterdam ein Schiffswrack (Baujahr 1929), das er komplett renovierte, den Bedürfnissen seiner Großfamilie entsprechend ausstattete und nach Köln überführte. Dieses Hausboot wurde nun der endgültige »feste« Wohnsitz der Kelly Family.
 
 Mit »Bravo« ans Popfirmament
 
An Bord befand sich auch ein voll eingerichtetes Tonstudio, und bald erschienen mit »Live« (1988), »Keep on singing« (1989) und »New world« (1990) weitere Schallplatten. Kathy und Vincent heirateten 1990, doch das Jahr brachte aufgrund eines anderen Umstandes eine entscheidende Wende in der Karriere der Kelly Family. Vater Dan erlitt einen Schlaganfall, was bedeutete, dass die Kinder ohne ihn auftreten und auf Tournee gehen mussten. Und als rein aus jungen Leuten bestehende Gruppe hatten sie nun deutlich mehr Erfolg, wenngleich sie nach wie vor im Doppeldeckerbus tingelten. Jimmy setzte sich 1991 vier Wochen lang nach Irland ab, doch er kehrte zurück an den heimischen Herd und in die Gruppe, die eine weitere erfolgreiche Platte, »Honest workers«, veröffentlichte und nun sogar schon Hilfspersonal in Form von vier Roadies beschäftigte. 1992 kam der jüngste Kelly, Kathys und Vincents Sohn Sean (14. Dezember 1992), zur Welt, und mit »Street life« erschien eine weitere in Eigenregie produzierte Schallplatte, die wie ihre Vorgänger ausschließlich bei Auftritten der Gruppe oder per Mail-Order verkauft wurde. Eine musikalische Wende zeichnete sich 1993 mit dem Album »Wow« ab, auf dem sich die Geschwister viel rockiger und eigenständiger gaben als je zuvor. Mit ihrer Abwendung von den Volksliedern, die das Repertoire lange dominiert hatten, und der Aufwertung von eigenem, in englischer Sprache gesungenem Material trafen die Geschwister einen Nerv. 1993 trat auch das Ereignis ein, das die Kelly Family schlagartig in den deutschen Pophimmel katapultierte und die anstehende Erfolgslawine lostrat: »Bravo«, die meistgelesene deutsche Teeniezeitschrift, brachte einen längeren Beitrag über die Gruppe, dem wöchentliche Kelly-Specials folgten. Auf einmal waren sie in aller Munde, und die Anhängerschaft wuchs ebenso unaufhaltsam wie die Umsätze stiegen (1993 geschätzte 13 Millionen DM).
 
 Ein Familienunternehmen mit Millionenumsätzen
 
Vater Dan hatte die Geschicke seiner Kinder und ihrer Band bislang äußerst clever geleitet. Eintrittskarten wurden relativ günstig verkauft, auf Tonträger wurden bei Mehrabnahme Rabatte gewährt, und bei Auftritten wurden regelmäßig Adresskarten verteilt, auf die die Fans ihre Anschrift notierten, was zur Folge hatte, dass jedes neue Produkt des Familienunternehmens, dessen Marketingabteilung als »Kel-Life« firmierte, direkt den potenziellen Kunden angeboten werden konnte. Ein weiterer äußerst geschickter Schachzug war nun, Informationen über die Gruppe exklusiv an »Bravo« (und dort eine einzige Redakteurin) weiterzugeben und damit das Bild der Gruppe in der Öffentlichkeit selbst zu gestalten und zu steuern. Für die optische Präsenz der Gruppe sorgte ein einziger, von Dan angestellter Fotograf, und der Managerpatriarch rief auch den Fanklub »No lies« ins Leben. Als 1994 die Kelly-Begeisterung ihren Höhepunkt erreichte (die Gruppe füllte mittlerweile Veranstaltungsorte wie die Essener Grugahalle, die 14 000 Personen fasst), nahm Dan für die nächste Platte seiner Kinder, »Over the hump«, in Form der Hamburger Plattenfirma »edel« das erste Mal seit langem professionelle Hilfe in Anspruch. Diese Zusammenarbeit zahlte sich aus, denn die Platte verkaufte sich — auch aufgrund des Hits »An Angel«, herzzerreißend gesungen von Mädchenschwarm Paddy und dem blond gelockten Angelo — an die zweimillionenmal und führte über Monate die deutsche Hitparade an (Jahresumsatz von Kel-Life 1994 um die 50 Millionen DM). Im Zuge dieses Erfolges brachte Polydor 1994 und 1995 zwei Best-of-Platten (»Die schönsten Songs der Kelly Family« 1 und 2) mit den frühen Aufnahmen auf den Markt, was zu Rechtsstreitereien führte. Ärger gab es auch, als der Kelly Family 1995 vorgeworfen wurde, die bei Fans eingesammelten Spenden in Höhe von mehreren hunderttausend DM nicht wie vorgesehen zur Bekämpfung von Aids verwendet, sondern selbst einbehalten zu haben. Dem musikalischen Erfolg tat derlei keinen Abbruch. Das nächste Album, »Almost heaven«, erschien im Herbst 1996 und verkaufte sich dreimillionenmal. Bei den Tourneen der Jahre 1996 und 1997 brachte die Kelly Family pro Konzert jeweils zwischen 40 000 und 50 000 Zuschauer auf die Beine. Zu der perfekten Marketingstrategie gehörte 1996 auch, dass in der deutschen Fassung des Walt-Disney-Films »Der Glöckner von Notre Dame« die Kelly Family einen der Songs übernahm (»Gott deine Kinder«), dessen Videoclip in einheimischen Kinos als Filmabspann gespielt wurde. Mit »Growin' up« erschien Ende 1997 ein weiteres Nr.-1-Album, dem sich eine große Deutschlandtournee und in der Folge das Konzertalbum »Live-live-live« (1998) anschlossen. 1998 verließen die Kellys ihre Bootskolonie, deretwegen sie mit den Kölner Behörden lange im Clinch gelegen hatten, und übersiedelten in das Gästehaus der Bundesregierung, Schloss Gymnich im Erftkreis, das sie kurz darauf für 13 Millionen Mark erwarben.
 
 
Lieder der Welt (1979)
 
Christmas all year (1980)
 
Wonderful world (1981)
 
Live (1988)
 
Keep on singing (1989)
 
New world (1990)
 
Honest workers (1991)
 
Street life (1992)
 
Wow (1993)
 
Die schönsten Songs der Kelly Family (1994)
 
Over the hump (1994)
 
Die schönsten Songs der Kelly Family 2 (1995)
 
Almost heaven (1996)
 
Growin« up (1997)
 
Live-live-live (1998)
 
From their hearts (1998)
 
Best of Kelly Family (1999)
 
 
Lisa Reinhard: »Sometimes I wish I were an angel«. Die Kelly Family und ihre Erfolge. München 161996.
 Peter Wendling: Die Kelly Family. Die Geschichte einer Supergruppe. München 51996.

Universal-Lexikon. 2012.

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